Nach dem Attentat vom 25. Juni.

 

Liebe Gemeinde, was am Freitag in unserer unmittelbaren Nähe geschehen ist, hat uns erschüttert. Drei Menschen sind gestorben. Weitere sind verletzt. Einige ringen mit dem Leben. Viele Menschen sind Zeugen dieser schrecklichen Attacke geworden. Nicht wenige haben sich dem Angreifer entgegengestellt. Sie haben offensichtlich verhindert, dass noch mehr Blut geflossen ist. Die Polizei war schnell zur Stelle und konnte den Täter überwältigen. Er selbst ist mit dem Leben davongekommen.

Wir wissen nichts oder wenig über die Hintergründe. Alle Spekulationen verbieten sich in diesem Moment. Hintergründe werden wir zur gegebenen Zeit erfahren. Dazu sind die Ermittlungen und die Gerichte da. Wie sind weder Ermittler noch Richter. Wir sollten uns vor voreiligen Schlüssen hüten. Gestern noch hat ein langjähriger Richter im Radio ein neues Gesetz der Bundesregierung kritisiert, das unter bestimmten Umständen ein abgeschlossenes Gerichtsverfahren noch einmal ermöglicht. Dieser Richter hat eindringlich geschildert, dass „die Dinge oft nicht so sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen.“ Das sagt jemand, der über viele Fälle von Mord und Totschlag zu Gericht gesessen hat. Dass Gerechtigkeit geübt werden kann, dafür sorgt unser Rechtssystem.

Was Gerechtigkeit im Angesicht von Tod, schwerer Körperverletzungen und den Traumata, die viele davontragen, genau heißen kann, das weiß ich auch nicht. Vor dieser Frage stehen wir immer, wenn Menschen schlimme Schäden erleiden. Ich bin aber froh, dass unser Rechtssystem nicht nach Rache oder Vergeltung sucht, und auch, dass es keine kollektive Schuld kennt. Darin können wir sicherlich eine christliche Spur erkennen. Wem unsere Gedanken gelten, sind die Toten, die Verwundeten, und alle ihre Angehörigen. Denn es war eine wahllos verübte Attacke. Es hätte offenbar jeden und jede treffen können. Die Opfer haben sich am Morgen, als sie zur Arbeit gingen, oder als sie ihre Wohnungen verlassen haben, von ihren Lieben wie immer verabschiedet. Sie haben unterwegs oder bei der Arbeit Bekannte getroffen, gegrüßt, Scherze gemacht und sich bestimmt darüber gefreut, dass unser Leben im Sommer unbeschwerter geworden ist. Sie haben nicht kommen sehen, was sich dann ereignet hat, und sie haben sich auch nicht schützen können. Zu den tragischen Geschichten gehört, dass ein Kind mit ansehen musste, wie sein Vater um´s Leben kam, und selbst auch verletzt worden ist. Unser Herz blutet, wenn wir uns vorstellen, welche Schrecken, welche Ängste und Verzweiflung unsere Mitmenschen in diesen Minuten durchgemacht haben. Sie sind uns nahe, auch wenn wir sie vermutlich nicht persönlich kennen. Es rührt uns an, wenn wir hören, wie viele Menschen sich dem Angreifer entgegengestellt haben. Mit einfachen Mitteln haben sie versucht, ihn in Schach zu halten. Und es scheint ihnen auch gelungen zu sein. Jeder und jede von ihnen hat das eigene Leben riskiert, und doch haben sie so gehandelt, dass sie andere geschützt haben statt sich selber in Sicherheit zu bringen. Das zu hören, erfüllt einen mit tiefer Dankbarkeit. Es ist eben nicht jeder sich selbst der Nächste, und auch nicht in extremen Gefahrensituationen.

„Wie wird der Mensch zum Mörder?“ war genau am Freitag ein längerer Artikel in der Süddeutschen Zeitung überschrieben. Dort wurde Petra Sandler portraitiert, die als Vize-Chefin des Landeskriminalamtes in den Ruhestand geht. Petra Sandler erinnert sich „an die salafistischen Anschläge in Würzburg und Ansbach“, und es ist eine grausame Ironie, dass genau an dem Tag wieder ein Anschlag in Würzburg erfolgt ist. Wie ein Mensch zum Mörder wird, das verrät uns dann leider das Portrait doch nicht, und e wäre interessant gewesen, wenn man eine Frau, die so lange damit zu tun, nach ihren Einsichten befragt hätte. Dass der Mensch zum Mörder werden kann, das gehört zu den ersten Einsichten der Bibel. Denn so beginnt die Geschichte der Menschheit. Kain erschlägt seinen Bruder Abel aus Missgunst. In den ersten Kapiteln der Bibel treten uns urtypische Konstellationen entgegen: Liebe von Elternteilen, die ein Kind bevorzugen, Neid zwischen Geschwistern, Verrohung der Menschen, das Verderbnis der Schöpfung, Größenwahnsinn und Entzweiung der Völker. In allen diesen Geschichten sind wir gemeint. Die Personen sind Urtypen, die in uns ihr Zuhause haben, auch Kain und Abel. Wir sind der Bruder, der vor Gott und den Menschen angenehm ist, und wir sind zugleich auch derjenige, der sich fragt, warum wir so oft benachteiligt werden. Wir sind derjenige, der in innerer Ruhe seiner Arbeit nachgeht und Frieden mit Gott und den Menschen hat, aber wir sind auch derjenige, der vom Neid angefressen sein kann und anderen nicht gönnt, was sie haben. Wir sind immer wieder das Opfer von denjenigen, deren Wut sich gegen uns richtet, auch wenn wir das gar nicht erwartet haben. Wir sind aber auch diejenigen, die den inneren Aufruhr kennen, der sich gegen andere richtet – oder auch gegen und selbst. Wir sind Kain, und wir sind Abel. Da macht sich die Bibel nichts vor. Wir haben die Möglichkeit in uns, in Frieden mit uns selbst, mit den anderen und Gott zu leben, und wir haben die Möglichkeit, auf andere bedrohlich zu wirken, sie einzuschüchtern und psychisch oder körperlich zu attackieren. Wenn uns die Gewalttat vom vergangene Freitag so erschreckt, dann ist das auch so, weil wir mit den zerstörerischen Anteilen unseres Wesens überwiegend gut zurechtkommen. Unsere Erziehung und unsere Kultur hat Schritt für Schritt Tabus errichtet, die wir beachten: Wir halten unsere Wut im Zaum, wir schlagen nicht aufeinander ein, und wir laufen nicht Amok, wenn uns etwas nicht passt. Als Christenmenschen kommt uns das ganz selbstverständlich vor. Aber wenn wir Akte brutaler Gewalt erleben, dann merken wir: Es ist selbstverständlich geworden. Es ist nicht von alleine so: Unser Umgang miteinander ist davon geprägt, dass wir freundlich miteinander umgehen. Das ist gut so. Das ist wichtiger als wir denken. Denn wenn uns auch Petra Sandler in dem Zeitungsartikel nicht verrät, was Mörder zu Mördern macht, so wissen wir doch, dass das Gewaltpotential in uns allen steckt. Und aus Studien in Kriegsgebieten wissen wir, dass Gewalt sich vorbereitet. Man kann das oft im Nachhinein wir an einer Skala ablesen: Das beginnt damit, dass bestimmte Gruppen den Kontakt einschränken. Man heiratet zum Beispiel keine Menschen mehr, die der anderen Gruppe angehören. Man erzählt sich Geschichten, die belegen, dass die anderen schlechter sind als die eigene Gruppen. Man erinnert sich an alles klitzeklein, was die anderem einem angetan haben. Wenn es zu einem Vorfall kommt, gerät die ganze Gruppe in Wallung. Man beschließt, dass man das nun nicht mehr durchgehen lassen kann. Man baut Drohgebärden auf. Und schließlich wird es ernst. Beim nächsten Zwischenfall greift man zu den Waffen. Nach den ersten Opfern schören sich beide Parteien ewige Rache. Solche Gewaltspiralen lassen sich aber vermeiden.

Als Kirchengemeinde sind wir einer der vielen Orte, an denen wir immer wieder einüben, wie wir friedlich miteinander umgehen.

- Es macht einen Unterschied, wie wir übereinander reden, und wie wir übe andere reden.

- Es macht einen Unterschied, ob wir uns von anderen abgrenzen, oder ob wir uns als Gemeinde so verstehen, dass wir für alle offen sind.

- Es macht einen Unterscheid, ob wir bestimmte Gruppen abschätzig betrachten, oder ob wir Unterschiede respektieren.

- Es macht einen Unterschied, ob wir Vorurteile bestätigen oder ob wir uns immer klarmachen: jeder Mensch ist ein ganz eigener Mensch mit seiner ganz eigenen Geschichte. Es ist gut, dass in der Kirchengemeinde Menschen zusammenfinden, die sonst nicht viel miteinander zu tun hätten. Es ist gut, dass wir hier nicht nur Freunde und Freundinnen treffen, nicht nur Menschen, die ähnliche Ansichten und Lebensgeschichten haben, nicht nur Menschen aus unserer Altersgruppe. Als Kirchengemeinde sind wir einer der vielen Orte in dieser Stadt, in der wir immer wieder neu lernen, mit jedem und jeder respektvoll umzugehen. Wenn wir so schnell nach einem Akt der Gewalt, der uns erschüttert hat, eine Lehre ziehen können, dann ist es die:

Wir werden uns nicht voneinander zurückziehen. Wir werden anderen Menschen weiter offen begegnen. Wir werden das Unsrige dafür tun, damit in unserer Stadt Menschen sich froh begegnen. Wir werden Verbindungen aufbauen. Wir werden Gelegenheiten schaffen, im Gespräch zu sein. Wir werden miteinander Gemeinschaft von vielen bilden, die jeder und jede anders sind als die anderen. Wir tun das jetzt in diesem Gottesdienst. Wir tun das, wenn wir nachher im Garten des Kinderauges St. Johannis beieinander sind. Wir tun das, wenn wir zusammen singen und beten, und wenn wir füreinander und diese Stadt beten. Wir trauen Gott, der uns so geschaffen hat, dass wir Zorn und Missgunst fühlen, aber der uns auch ermöglicht, Zorn in kreative Schaffenskraft und Missgunst in Anerkennung der anderen zu verwandeln. Wir trauen Christus, der uns vorgelebt hat, uns wehrlos zu machen und so das Vertrauen zwischen Menschen zu ermöglichen. Wir trauen dem Heiligen Geist, der der uns in die Gemeinschaft mit anderen stellt. Amen

Pfarrer Jürgen Reichel, Würzburg St. Johannis