Fünf Frauen und ein neugeborenes Kind - Predigt von Bischof Christopher Cocksworth, Church of England (Coventry), 15. März 2020

Liebe Nagelkreuz-Initiative Würzburg,
liebe St. Johannis-Gemeinde,

Grüße in Jesus Christus aus der Diözese und der Kathedrale von Coventry!

Ich bedaure, nicht bei Euch sein zu können. Ich hatte mich auf das Wiedersehen sehr gefreut und dem lange entgegengesehen, mit Euch des furchtbaren Bombardements Eurer schönen Stadt vor 75 Jahren zu gedenken.

Bedauerlicherweise hat das Coronavirus all meine Pläne vereitelt, und ich weiß auch, dass es die Gedenkfeierlichkeiten schwer in Mitleidenschaft zieht.

Ich bin der Nagelkreuz-Initiative sehr dankbar für ihre Einladung, hier zu predigen und an den Ereignissen dieses Wochenendes teilzunehmen. Nun bedanke ich mich für das Verstandnis dafür, dass die Umstände mich daran hindern, persönlich bei Euch zu sein. Seid gewiss, dass ich in Gedanken dabei bin, und Ihr in meinem Herzen und in meinen Gebeten seid. Schon jetzt freue ich mich darauf, bei anderer Gelegenheit zu Euch zu kommen.

Wie Ihr in der Predigt hören werdet, senden sowohl meine Familie als auch meine Diözese ihre herzlichsten Grüße.

In der Liebe Christi, die uns alle umschließt, auch wenn wir getrennt sind, und "es Gott gefallen hat, durch sie alles zu versöhnen zu ihm hin" (Kol 1, 20).

Bis nächstes Mal!
Euer Bischof Christopher Cocksworth

Nagelkreuz in Würzburg

 

 

 

Predigt

 


Predigtext: Lukas 9,57-62

Vom Ernst der Nachfolge

Und als sie auf dem Wege waren, sprach einer zu ihm: Ich will dir folgen, wohin du gehst. Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege. Und er sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Er aber sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes! Und ein andrer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Hause sind. Jesus aber sprach zu ihm: Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.

 

Einleitung

Es ist eine große Ehre, wieder in St Johannis Würzburg zu sein. Ich war vor fünf Jahren hier zum 70. Jahrestag des Bombenangriffs in der Stadt. Ich fand es ein sehr bewegendes Erlebnis mit Ihnen dabei zu sein, bei dieser wichtigen Gedenkfeier.

Es ist mir eine Freude, wieder bei Ihnen zu sein, obwohl mein Herz die Schmerzen dieser großen Trauer spürt.  Den Schmerzen dieses Tages, bei dem viele Bürger Ihrer Stadt in so kurzer Zeit ums Leben gekommen sind.

Ich bin der ök. Nagelkreuz-Initiative sehr dankbar für die Einladung  in dieser wunderschönen Kirche nochmals zu predigen.

Das unvernünftige Verlangen der Nachfolge

Einige Verse vor unser Lesung aus dem Evangelium erzählt uns Lukas, dass Jesus sein “Angesicht wandte, entschlossen, nach Jerusalem zu wandern”. Einige Verse zuvor erzählte Christus seinen Jüngern, dass er bald verraten und getötet werden wird. Es ist damit klar, dass Jesus nachzufolgen ein ernsthaftes, forderndes Unternehmen sein wird. Aber seine Jünger entscheiden sich bei ihm zu bleiben, und mit ihm nach Jerusalem zu wandern.

Auf dem langen Weg von Galiläa nach Jerusalem begegnen ihnen sogar andere Menschen, die behaupten, dass sie bereit und willig sind, Christus nachzufolgen. Aber jeder dieser Menschen scheint eine Bedingung zu haben.

“Ich brauche einen Ort zum Schlafen” behauptet der Erste.
“Ich muss meinen Vater beerdigen” erzählt der Zweite.
“Ich muss mich von meiner Familie verabschieden” sagt der Dritte.

Christus, aber, lehnt ihre Bedingungen ab. “Wenn ihr mir folgen wollt, dann folgt mir jetzt und vollends.

“Du aber”, sagt er dem einen, “geh hin und verkündige das Reich Gottes!” Keine Ausreden, keine Verspätungen, keine anderen Prioritäten. Einfach nur: Folge mir. Jetzt und vollends.

Das scheint sehr streng von Jesus.
Sicherlich sind dies verständliche Anforderungen: ein Dach über dem Kopf, Respekt den Toten gegenüber, Familienloyalitäten zu respektieren und wahren.
Wieso ist es so dringend, das Reich Gottes zu verkünden? Wieso darf es keine Verzögerung geben? Wieso müssen wir Jesus jetzt und vollends nachfolgen?

Dies sind schwierige Fragen, denen ich mich gleich widmen möchte. Zuerst möchte ich eine Geschichte erzählen, von Krieg und Frieden. Eine Geschichte von fünf Generationen. Eine Geschichte von fünf Frauen und einem neugeborenen Kind.

Fünf Frauen und ein neugeborenes Kind

Im Jahr 1918 starb eine junge Frau bei der Geburt in London. Sie versuchte einen deutschen Luftangriff zu entkommen. Sie fiel hin, und starb einige Tage später, zusammen mit ihrem neugeborenen Kind. Ihr Mann kam nicht zurecht. Ihr einziger Sohn lebte den Rest seines Lebens ohne Mutter, Brüder, oder Schwestern. Er fand es sehr schwierig, an einen Gott der Liebe zu glauben.

Die Frau war meine Großmutter. Der Sohn war mein Vater.

Ich hatte noch eine Großmutter. Sie heiratete einen Matrosen. Er diente in der Royal Navy (Marine) und kämpfte im ersten Weltkrieg gegen den deutschen und türkischen Feind. Sie hatten vier Kinder. Das jüngste Kind war meine Mutter. Meine Großmutter sagte, dass die Zeit zwischen den Weltkriegen gerade lang genug war, um ihre Kinder erwachsen werden zu sehen, damit sie in den Krieg ziehen konnten, und kurz genug war, damit ihr Mann noch jung genug war, um in den Krieg zurückkehren zu können.

Meine Mutter war zu jung für den Krieg, aber sie verbrachte viele Nächte damit, sich vor den Bomben zu fürchten. Nach dem Krieg heiratete sie meinen Vater. Er kämpfte gegen den deutschen und italienischen Feind für den Großteil des Krieges. Sie hatten drei Kinder. Ich war das Mittelkind. Immer, wenn es einen Kriegsfilm in Fernsehen gab - und es liefen oft Kriegsfilme im Fernsehen, als ich jung war - sagte meine Mutter: “Schalte das aus! Ich kann diese rauen, deutsche Stimmen nicht ertragen”. Wir mochten die Deutschen nicht wirklich, als ich aufgewachsen bin.

Meine Frau und ich hatten fünf Söhne. Einer verliebte sich in eine deutsche Frau, Friederike, aus einer katholischen Familie. Im Jahr 2018, hundert Jahre nach dem Ende des ersten Weltkrieges, heirateten Friederike und Sam. Sie heirateten in der Kathedrale von Coventry. Nicht in der neuen Kathedrale, sondern in den Ruinen der alten Kathedrale. Die Sonne schien an diesem Tag.

Die Hochzeitsgemeinde, halb deutsch, halb britisch, versammelte sich um die Braut und den Bräutigam herum. Zwei ältere Damen gehörten dazu, und standen nahe beieinander. Eine war die Großmutter von Sam, meine Mutter. Die andere war die Großmutter von Friederike. Ihre Väter haben im ersten Weltkrieg versucht sich gegenseitig umzubringen. Ihre Ehemänner haben im zweiten Weltkrieg versucht sich gegenseitig umzubringen. Nun erklärten ihre Enkelkinder einander die Liebe, auf Deutsch und auf Englisch, inmitten der Ruinen einer Kathedrale, die durch Hass und Konflikt zerstört wurde. Ich betete an diesem Tag die Segnungen für sie auf Deutsch und auf Englisch.

Die Feier danach fand im Bischofshaus statt, wo wir wohnen. Deutsche und britische Menschen aus fünf Generationen tanzten durch die Nacht, einschließlich meiner Mutter. Es hat hundert Jahre gebraucht, aber in dieser Nacht wusste ich, dass die Kriege nun endlich vorbei waren. Die Versöhnung ist angekommen, vollends und endgültig, in diesen beiden Familien.

Und nun gibt es eine neue Generation von Frauen in der Familie. Im vergangenen Oktober hießen Sam und Friederike eine kleine Tochter willkommen. Eine deutsch-britische Tochter.

Rückkehr zu den Fragen der Nachfolge

Lasst uns nun zu unseren Fragen von vorhin zurückkehren, von der Lesung aus dem Evangelium.
Wieso ist es so dringend, das Reich Gottes zu verkünden?
Wieso darf es keine Verzögerung geben?
Wieso müssen wir Jesus jetzt und vollends nachfolgen?


Wenn wir das Reich Gottes nicht dringlich und ohne Verzögerung verkünden, geben wir den Mächten des Hasses, Konflikts, Todes, und Bösen Raum. Diese bringen der Welt nur Vernichtung, und können ein Leiden verursachen, dass hundert Jahre brauchen kann, um zu heilen.

Wenn wir das Reich Gottes ohne Verzögerung erklären, und wenn wir Jesus Christus vollends nachfolgen, werden wir zu Botschafter des Friedens und Träger der Versöhnung. Wir halten damit den Zyklus der Gewalt an, und verwandeln Feinde in Freunde.

Ausklang

Die gute Nachricht ist, dass das Reich Gottes stärker ist, als das Reich dieser Welt.
Seine Liebe ist stärker als der Hass.
Sein Licht ist stärker als die Finsternis.
Sein Leben ist stärker als der Tod.

Es ist stärker als Krieg in Syrien.
Es ist stärker als die Mächte des wachsenden Rassismus in Europa.
Es ist sogar stärker als der Brexit.

“Du aber”, sagt Jesus Christus, “geh hin und verkündige das Reich Gottes!”

PS

Letzte Woche habe ich meine Mutter besucht. Wir haben über meinen Besuch in Würzburg gesprochen. Sie sagte: "Es ist so schrecklich an all diese Menschen zu denken, die wegen unserer Bomben, in einer einzigen Nacht, ums Leben gekommen sind. Wieso haben wir das getan, wenn der Krieg schon fast vorbei war?"
Meine Mutter sendet euch Liebe.
Und ihr Sohn sagt, Vater, vergib.

Amen.

 

Original in Englisch

 

Introduction

It is a great honour to be back in St Johannis Würzburg. I was here five years ago for the 70th Anniversary of the bombing of the city. I found it a very moving experience to be with you for that important commemoration.

It is a joy to be with you again, even though my heart is heavy with the great sadness of the terrible day when so many citizens of your city died in so short a time.

I am very grateful to the Wuerzburg Initiative for the invitation to preach again in this beautiful church.


The unreasonable demands of discipleship

A few verses before our gospel reading, Luke tells us that Jesus has ‘set his face to go to Jerusalem’. A few verses before that, Jesus told his disciples that he will be betrayed and killed. It is clear that it will be a serious and demanding business to follow Jesus. But his disciples choose to stay with him and go up to Jerusalem.  

In fact, on the long road from Galilee to Jerusalem, they meet other people who say they are ready and willing to follow Jesus. But each of them seems to have a condition.
‘I will need somewhere to sleep’, expects the first.
‘I will need to bury my father’, says the second.
‘I will need to say goodbye to my family’, says the third.

But Jesus refuses their conditions: if you want to follow me, follow me now and fully.

‘As for you’ – he says to one of them – ‘go and proclaim the kingdom of God’: no excuses, no delays, no other priorities. Just follow me, now and fully.

That sounds very harsh of Jesus.
Surely these are reasonable demands: a roof over one’s head; respecting the dead; keeping up ties of family loyalty.
Why is it so urgent to proclaim the kingdom of God?
Why can there be no delay?
Why do we have to follow Jesus now and fully?

These are difficult questions. I want to return to them later. First, I want to tell you a story about war and peace. A story of five generations. A story of five women and a baby.

Five women and a baby

In 1918 a young woman died in childbirth in London. She was trying to escape a German air raid. She fell. Some days later she died. The baby with her. Her husband could not cope. Her son lived the rest of his life without a mother or brothers or sisters. He found it very difficult to believe in a God of love.

The woman was my grandmother. The son was my father.

I had another grandmother. She married a sailor. He served in the Royal Navy and fought the German and Turkish enemy throughout the First World War. They had four children. The last was my mother. My grandmother said that the time between the world wars was just long enough for three of her children to grow up and go off to war, and just short enough for her husband to be young enough to go back to war.

My mother was too young for war but she spent many nights in fear of the bombs. After the war, she married my father. He had fought the German and Italian enemy for most of the war. They had three children. I was the middle one. Whenever there was a war film on the television – and there were often war films on the television when I was young ¬¬– my mother would say, ‘Switch it off. I cannot bear to hear those harsh German voices’. We did not really like Germans when I was growing up.

My wife and I had five sons. One of them fell in love with a German woman – Friederike, from a catholic family. In 2018 – 100 years after the end of the First World War – Friederike and Sam married. They married each other in Coventry Cathedral ¬– not in the new Cathedral but in the ruins of the old Cathedral. The sun shone on that day.

The congregation, half-German, half-British, stood around the bride and groom. Among them were two old ladies standing close to each other. One was Sam’s grandmother, my mother. The other was Friederike’s grandmother. Their fathers had tried to kill each other in the First World War. Their husbands had tried to kill each other in the Second World War. And now their grandchildren declared their love for each other in German and English standing in the ruins of a Cathedral destroyed by hate and conflict. I prayed God’s blessing upon them in German and English.

The party afterwards was in the garden of Bishop’s House, where we live. British and German people of five generations danced the night away, my mother among them. It had taken 100 years but I knew that night that the wars had truly ended and reconciliation had come, fully and finally, to two families.

And now there is another generation of women in the family. Last October, Sam and Friederike had a baby daughter: a German–British daughter.

Back to the questions about discipleship

So let’s return to the questions that we asked earlier when we looked at our gospel reading.

Why is it so urgent to proclaim the kingdom of God?
Why can there be no delay?
Why do we have to follow Jesus now and fully?

Because if we do not proclaim the kingdom of God urgently and without delay we give space to the forces of hatred and conflict, death and evil that bring destruction to the earth, and cause suffering that may take one hundred years to heal.

When we proclaim the kingdom of God without delay, and when we follow Jesus fully, we become ambassadors of peace and ministers of reconciliation. We stop the cycle of violence and we turn enemies into friends.

Conclusion

The good news is that the kingdom of God is stronger than the kingdom of this world.
Its love is stronger than hate.
Its light is stronger than darkness.
Its life is stronger than death.

It is stronger than war in Syria.
It is stronger than forces of rising racism in Europe.
It is even stronger than Brexit.

‘But as for you’, says Jesus, ‘go and proclaim the kingdom of God’.

 PS

I visited my mother last week. We spoke about my visit to Würzburg. She said ‘it’s so awful to think of all those people who died in a single night because of our bombs. Why did we do it when the war was nearly over’.
My mother sends you her love.
And her son says, Vater, vergib