Predigt zum Ewigkeitssonntag 2021 mit Dekan i. R. Eckhard Herrmann

I

Liebe Gemeinde,

er ist gerade mal dreißig. Verheiratet mit seiner großen Jugendliebe. Zwei kleine Kinder. Erfolgreich im Beruf. Rundherum glücklich. Es könnte nicht besser sein.

In letzter Zeit fühlt er sich oft müde. Schlapp. Erschöpft. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. „Ich muss wohl doch mal zum Arzt gehen. Mich gründlich untersuchen lassen.“ Die Diagnose ist niederschmetternd, … zieht ihm den Boden unter den Füßen weg. Nein, … es muss noch nicht zu spät sein; aber … Es bleibt ein Aber. Ein großes Aber. Wenn er gleich operiert wird … Wenn die Chemotherapie anschlägt … Wenn …, wenn …, wenn …

Eine Katastrophe! Bohrende Fragen, die ihm niemand beantworten …, lähmende Ängste, die ihm keiner nehmen …, dunkle Bilder, von denen er sich nicht lösen kann. Alpträume rauben ihm den Schlaf. Er sieht sich – wieder und wieder – auf seiner eigenen Beerdigung. Er. Ausgerechnet er. Warum?

Er ist ein gläubiger Mensch. Liest oft in der Bibel. Betet abends vor dem Schlafengehen mit seinen Kindern. Erzählt ihnen von Gott. Ein guter Freund. „Einer, der auf euch aufpasst, damit euch nichts passiert.“

 

So wie seine Eltern früher mit ihm gebetet und sein Vertrauen zu Gott geweckt haben. „Mein treuer Begleiter …“

„Komm, du süße Todesstunde …!“

„Nein, nein und noch einmal nein! Komm‘ nicht! Später, wenn ich alt bin, … mein Leben gelebt habe, … dann … Aber nicht jetzt! Bitte nicht jetzt“

 

II

„Siebzig Jahre währet unser Leben,

und wenn's hochkommt, so sind's achtzig …“ (1) 

Sie ist gerade neunzig geworden. Neunzig! Nie und nimmer hatte sie damit gerechnet. So alt!  „Zu alt!“, sagt sie.

Den Krieg hat sie mitgemacht. Als Kind. Und als Jugendliche. Der Vater: vermisst. Irgendwo. Nicht mehr zurückgekommen.

Die Vertreibung. Die Flucht. Zusammen mit ihrer Mutter. Mit nichts. Gar nichts.

Und dann der Neuanfang. Fernab der Heimat. In einem fremden Land und unter Menschen, die sie nicht haben wollten. Und die sie das auch spüren lassen haben. Bei jeder Gelegenheit. Die Arbeit war anstrengend. Hart. Kräftezehrend.

Nein. Sie hat’s nicht leicht gehabt. Neunzig Jahre.

„Und was daran köstlich scheint,

ist doch nur vergebliche Mühe.“ (2) 

Seit Jahren hat sie Schmerzen. Die Beine. Der Rücken. Die Augen wollen auch nicht mehr so recht. Sie war schon lange nicht mehr draußen. Nicht mal mehr vor der Tür. Und wenn die Kinder nicht dafür gesorgt hätten, dass sich rund um die Uhr jemand um sie kümmert …

Nein. Sie mag nicht mehr. Es ist genug.

„Komm, du süße Todesstunde …!“

Je eher, desto besser. Lieber heute als morgen.

„Säume nicht,

letztes Licht …!“

„Ich bin bereit.“

 

 

 

III

Arie

Komm, du süße Todesstunde,
Da mein Geist Honig speist
Aus des Löwens Munde;
Mache meinen Abschied süße,
Säume nicht, letztes Licht,
Dass ich meinen Heiland küsse.

 

IV

Salomon Franck. Ein frommer Mann. Von Beruf Jurist. Regierungsbeamter in seiner Geburtsstadt Weimar.

Nebenbei schreibt er. Texte zu ganz verschiedenen Themen. Bücher über Haushaltsführung und Münzkunde. Übersetzungen alter Dokumente. Auch Gedichte. Zu allen möglichen Anlässen. Und … geistliche Lieder.

Geistliche Lieder, in denen er seinen Glauben, … seine Frömmigkeit – meist sehr schwärmerisch, … mir, ich sag’s ganz offen, befremdend schwärmerisch – in Worte fasst. Hier macht er sich bald schon einen Namen.

Bekannte Musiker werden auf ihn aufmerksam. So auch Johann Sebastian Bach, der von 1708 bis 1717 ebenfalls in Weimar lebt und wirkt.

Als Hoforganist und Konzertmeister soll er für jeden Sonntag des Kirchenjahres eine Kantate komponieren. Dreißig sind’s schließlich – in dieser Zeit – geworden.

Für die meisten schreibt Salomon Franck die Texte. Texte, die – von Fall zu Fall – auch Francks Leben spiegeln. Ein Leben, in dem der Dichter und auch seine Familie viel Leid erfahren. Krankheit und Tod legen immer wieder dunkle Schatten über ihr Haus.

Nach allem, was er durchgemacht hat, müsste er doch eigentlich verbittert sein, zweifeln, mit Gott hadern. Aber … nichts dergleichen.

Der Tod? Gehört für ihn zum Leben. Ja mehr noch: Er ist das Tor zum Leben. Zum wahren, … zum ewigen Leben. Kann einem Menschen Besseres widerfahren?

Warum also trauern?

„Der blasse Tod ist meine Morgenröte,

mit solcher geht mir auf die Sonne

der Herrlichkeit und Himmelswonne.

… Ich habe Lust, bei Christo bald zu weiden.“ (3) 

 

V

Rezitativ Tenor

Welt! Deine Lust ist Last,
Dein Zucker ist mir als ein Gift verhasst,
Dein Freudenlicht ist mein Komete,
und wo man deine Rosen bricht,
sind Dornen ohne Zahl
zu meiner Seele Qual!
Der blasse Tod ist meine Morgenröte.
Mit solcher geht mir auf die Sonne
der Herrlichkeit und Himmelswonne.
Drum seufz ich recht von Herzensgrunde
nur nach der letzten Todesstunde!
Ich habe Lust, bei Christo bald zu weiden,
Ich habe Lust, von dieser Welt zu scheiden.

Arie Tenor

Mein Verlangen
ist, den Heiland zu umfangen
und bei Christo bald zu sein.
Ob ich sterblich' Asch und Erde
durch den Tod zermalmet werde,
wird der Seele reiner Schein
Dennoch gleich den Engeln prangen.

Rezitativ Alt

Der Schluss ist schon gemacht:
Welt, gute Nacht!
Und kann ich nur den Trost erwerben,
in Jesu Armen bald zu sterben:
Er ist mein sanfter Schlaf!
Das kühle Grab wird mich mit Rosen decken,
bis Jesus mich wird auferwecken,
bis er sein Schaf
führt auf die süße Himmelsweide,
dass mich der Tod von ihm nicht scheide!
So brich herein, du froher Todestag!
So schlage doch, du letzter Stundenschlag!

Chor

Wenn es meines Gottes Wille,
Wünsch ich, dass des Leibes Last
heute noch die Erde fülle,
und der Geist, des Leibes Gast,
mit Unsterblichkeit sich kleide

in der süßen Himmelsfreude.
Jesu, komm und nimm mich fort!
Dieses sei mein letztes Wort.

Choral

Der Leib zwar in der Erden
von Würmen wird verzehrt,
doch auferweckt soll werden,
durch Christum schön verklärt,
wird leuchten als die Sonne
und leben ohne Not
in himml'scher Freud und Wonne.
Was schadt mir denn der Tod?

 

VI

„Ach, dieser Monat trägt den Trauerflor ...

Der Sturm ritt johlend durch das Land der Farben.

Die Wälder weinten. Und die Farben starben.

Nun sind die Tage grau wie nie zuvor.

Und der November trägt den Trauerflor.

 

 

Der Friedhof öffnete sein dunkles Tor.

Die letzten Kränze werden feilgeboten.

Die Lebenden besuchen ihre Toten.

In der Kapelle klagt ein Männerchor.

Und der November trägt den Trauerflor.

 

 

Was man besaß, weiß man, wenn man's verlor.

Der Winter sitzt schon auf den kahlen Zweigen.

Es regnet, Freunde. Und der Rest ist Schweigen.

Wer noch nicht starb, dem steht es noch bevor.

Und der November trägt den Trauerflor.“ (4) 

 

Die Stimmung dieses Letzten Sonntags des Kirchenjahres ließe sich kaum eindrücklicher beschreiben als Erich Kästner das tut.

 

Menschen gehen auf den Friedhof. Zu den Gräbern ihrer Verstorbenen.

„Die Lebenden besuchen ihre Toten.“ Was sie mitnehmen: Erinnerungen. Erinnerungen an die Frau, … an den Mann, … die Mutter, den Vater, das Kind, … an jemanden, mit dem sie ihr Leben geteilt haben. Schöne und traurige Augenblicke. Leichte und schwere Stunden. Freud und Leid.

Abschiede. Abschiede, die eigentlich gar keine Abschiede waren. Weil es sie nicht gegeben hat.

Plötzlich war er da: der Tod. Ohne Vorwarnung. „Wie ein Dieb in der Nacht.“ (5) Ein Eindringling. Vor allem in das Leben derer, die zurückgeblieben sind. Und für die – von einem Augenblick zum anderen – nichts mehr ist und nichts mehr sein wird, wie es einmal war.

Und Abschiede, die sich hinziehen. Tage, Wochen, Monate. Schier endloses, Leib und Seele zermürbendes Warten. Warten auf Erlösung. Warten auf den Tod.

„Komm, du süße Todesstunde!“

Im November, dieser so grauen und trüben Zeit – … Nebel, Kälte, Dunkelheit allenthalben –, die auch die Gedanken grau und trüb werden lässt, dringen diese Abschiede wieder ins Bewusstsein. Konfrontieren uns – wieder und wieder – mit Erlebtem, mit Erlittenem und mit ein für allemal Unwiederbringlichem. „Was man besaß, weiß man, wenn man's verlor.“ Und … „der November trägt den Trauerflor.“

 

VII

Totensonntag. Der Blick – zurückgewandt – auf die Endlichkeit. Auch auf unsere eigene Endlichkeit.

Unser Glaube weitet diesen Blick. Und lässt uns ahnen und hoffen, dass das, was ist, und das, was war, noch nicht alles gewesen sein kann. Dass da noch etwas kommt. Dass ER kommt. Gott. Uns abholt und mitnimmt.

„Und der Geist, des Leibes Gast,

mit Unsterblichkeit sich kleide

in der süßen Himmelsfreude.“(6) 

 

Das nimmt dem Tod nichts von seiner Endgültigkeit, … macht den Abschied nicht leichter, … das Gehen-lassen-müssen und das Zurückbleiben nicht erträglicher.

Aber es kann helfen, damit zu leben.

 

Totensonntag. Ewigkeitssonntag. Das eine … und das andere. Zwei Seiten einer Medaille.

Dieser Tag ist beides. Ist Totensonntag und Ewigkeitssonntag. Ist Zurückblicken und Vorausschauen. Ist Trauer und Trost. Ist Fluch und Segen.

Oft kostet es Zeit, … viel Zeit … und wir müssen einen weiten, … einen mitunter auch schmerzhaften Weg zurücklegen, um vom einen zum Anderen zu gelangen.

Um annehmen zu können, was wir nicht wahrhaben wollen. Um hinter der Dunkelheit, die uns erfüllt, das Licht zu sehen, das uns entgegenstrahlt.

Um jenen Klang, der uns aus der Ewigkeit entgegenhallt, zu hören … und einzustimmen, in den Gesang der Hoffnung.

Gebe Gott, dass uns das gelinge, wenn wir von lieben Menschen … und wenn wir selbst eines Tages Abschied nehmen müssen.

„Gloria sei dir gesungen
mit Menschen- und mit Engelzungen,
mit Harfen und mit Zimbeln schön.
Von zwölf Perlen sind die Tore
an deiner Stadt, wir stehn im Chore

der Engel hoch um deinen Thron.
Kein Aug hat je gespürt,
kein Ohr hat mehr gehört
solche Freude.
Des jauchzen wir und singen dir
das Halleluja für und für.“ (7) 

Amen.

 

Dekan i.R. Eckhard Herrmann, Kaufbeuren

 

(1) Psalm 90,10a

(2) Psalm 90,10b

(3) Kantate 161,2 - Rezitativ

(4) Erich Kästner, Der November

(5) 1. Thessalonicher 5,2

(6) Kantate 161,6

(7) EG 147,3