Kanzelgast ist der Diplomtheologe Michael Kuhnert. In seiner Kanzelrede wird er, ausgehend vom Heilungsauftrag Jesu, das Recht auf Gesundheit für alle Menschen in den Blick nehmen. Angesichts der Pandemie wird einmal mehr die ungerechte Verteilung von Ressourcen für die Gesundheit der Menschen deutlich. Kuhnert, derzeit Geschäftsführer des Missionsärztlichen Instituts und vorher als Entwicklungshelfer und Länderreferent beim Missionswerk Adveniat tätig, weiß darüber aus erster Hand zu berichten.
Guten Morgen, liebe Gottesdienstbesucherinnen und –Besucher,
vielen Dank, Frau Wildfeuer, für Ihre Einladung,
Es ist kühler geworden in Würzburg und auf der Welt, distanzierter, bedrohlicher. Selbst hier in St. Johannis fröstelt es uns - wegen der Jahreszeit und wegen des Ausnahmezustands. Das Virus hat uns im Griff. Wir sitzen in sicherem Abstand voneinander, tragen FFP2 Masken und hoffen, uns während dieses Gottesdienstes nicht anzustecken.
Eigentlich möchte ich mit meiner Kanzelrede Herzen erwärmen, trösten und wenigstens ein bisschen Zuversicht verbreiten.
Aber wir leben nicht erst seit Corona, sondern seit langem in einer irren Zeit. Ich kann sie nicht schön reden. Der Blick auf die Armen in Lateinamerika, Afrika und Asien und der ständige Austausch mit ihnen verbietet mir das. Die Armen, mit denen ich fünf Jahre in Kolumbien und vier Jahre in Argentinien zusammenlebte und dort lieb gewann, rufen mir zu: „Vergiss uns nicht“.
Diesen Ruf will ich, trotz der Dauernörgelei in der Pandemie, nicht überhören. Ich will nicht zulassen, dass er im Gemoser chronisch Frustrierter und Dauerbeleidigter untergeht oder vom Gekreische intoleranter, selbstbezogener, letztlich furchtbar angstbessessener Pharisäer und „Querbeetdenker“ übertönt wird. Ich sehe es als meine Pflicht an, den Ruf der Armen zu verstärken und weiterzutragen; wohl wissend, dass er uns einheizen kann. „Vergesst uns nicht!“
Covid-19 hat unsere Unbeschwertheit und unsere vermeintlichen Sicherheiten hinweggerissen wie ein Frühlingssturm. Wir erfahren das Leben nun fast so schockierend, unfair, bitter und zerbrechlich wie die Ausgeschlossenen in Afrika, Asien und Lateinamerika seit Generationen. Die Corona-Pandemie nehmen wir ernst, weil sie uns selbst betrifft. Andere Endemien und das damit verbundene Leid nehmen wir kaum oder gar nicht wahr. Wir kreisen um uns selbst. Wir schauen weg und lassen, trotz des Appells der Vereinten Nationen ‚ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters zu gewährleisten und ihr Wohlergehen zu fördern‘, immer noch viel zu viele Menschen auf dem Weg zum Wohlergehen zurück. Wir ignorieren die Zeichen der Zeit.
Wenn wir wirklich wollen, dass die Zeitläufte uns und die anderen weniger krank machen, wenn wir wollen, dass die Zeiten besser werden und heilsamer, müssen wir die Finger in ihre Wunden legen. Der christliche Glaube ist keine Wellness-Veranstaltung und auch kein Wohlfühlgedöns. Deshalb müssen wir klipp und klar sagen, was das Leben bedroht und was das Zusammenleben und die Zukunft vergiftet. Wir müssen die Zeichen der Zeit erkennen, benennen, sie mit dem Blick auf Jesus interpretieren.
Glaube ist ganz unbestritten Lebenshilfe! Und deswegen einfühlend, mitleidend, verständnisvoll, barmherzig, gütig.
Aber er ist auch entschieden und parteiisch - für die Armen, für die ungerecht Behandelten, für die Vergessenen und zu kurz Gekommenen. Glaube nennt Skandalöses beim Namen, prangert Ungerechtigkeiten an und regt sich über die Nonchalance und Selbstbezogenheit der vermeintlichen Gewinner auf. Glaube ist eben auch Stachel im Fleisch. Nicht nur Lebenshilfe, sondern auch Auftrag!
Weil dem so ist, beauftragte Jesus seine Jünger/innen in der sog. Aussendungsrede in Lk 10,9 ganz eindeutig und unmissverständlich: „Heilt die Kranken, die dort sind und sagt den Leuten, das Reich Gottes ist nahe.“ Die Kranken gehen Jesus ans Herz. Vor ihrem Leid schaut er nicht weg. Um sie zu retten, überschreitet er Grenzen, bricht er das Gesetz und heilt sie auch am Sabbat. Ihr Leid und die Situation, in der sie sich befinden, treiben ihn um. Ihr Schicksal ist ihm bitter ernst. Der Einsatz für die Kranken ist Ernstfall und die Bewährungsprobe seiner Nachfolge. Nicht nur während einer Pandemie, sondern immer.
Es ist kühl geworden in Deutschland. und auf der Welt:
Angesichts von weltweit bereits mehr als 2,3 Millionen Corona-Toten und von über 62.000 Toten bei uns läuft es uns eiskalt den Rücken runter. Wir haben Angst, viele trauern und jeder leidet auf seine Weise unter Covid-19. Keine Umarmungen mehr, keine Besuche, denn das Virus geht um. Zurückgeworfen auf uns selbst, fällt uns die Decke auf den Kopf. Wir wollen raus aus unsern vier Wänden, endlich die Masken abnehmen und unbeschwert leben. Wir wollen raus aus dieser Situation, die uns sprichwörtlich den Atem raubt, so viel Kraft entzieht, den Mitmenschen und uns selbst zur Bedrohung macht. Wir wollen endlich wieder ein normales Leben führen nach diesem Jahr, in dem wir uns ausgeliefert fühlen wie noch nie, mit dem Schicksal hadern und die vielen Toten beklagen. Selbstverständlichkeiten, Gewohntes und Vertrautes liegen so lange zurück und das Warten auf bessere Zeiten zieht sich so verdammt in die Länge.
Wir sind so müde ob der Lockdowns, Quarantänen, Ausgangsbeschränkungen, Notbetreuungen oder Nichtbetreuungen, wir wollen nicht mehr zuhause arbeiten und sind es leid, unsere Eltern oder Großeltern nicht besuchen zu können. Wir wollen, dass die Pandemie endlich zu Ende ist, wollen ins Restaurant, ins Theater, ins Stadion, zu Freunden, endlich unseren Lieben um den Hals fallen und den nächsten Urlaub buchen. Wir wollen unbeschwert das Leben genießen und möglichst sofort die Impfung haben.
Wir wollen, aber wir können nicht. Seit Jahrzehnten ging es, zumindest für die meisten von uns, stetig aufwärts. Grenzen fielen, alles schien machbar. Und jetzt können wir fast gar nichts mehr machen. Verzweiflung macht sich breit, Zukunftsängste nehmen zu. Wir lassen die Köpfe hängen. Die Pandemie ist eine große Demütigung für uns, eine narzisstische Kränkung, denn sie schränkt uns ein und macht uns ohnmächtig. Entsprechend ratlos, genervt, überfordert, manchmal aggressiv und oft auch selbstmitleidig reagieren wir. Wir wollen, dass alles endlich wieder normal wird. Aber was ist normal und welche Normalität wollen wir?
Die Normalität von „vor der Krise“? Also die Normalität von 2019?
Schauen wir sie uns kurz an:
Wir Deutschen traten 70 Millionen Urlaubsreisen an, 124 Millionen Passagiere stiegen in ein Flugzeug, 100 Millionen gingen ins Kino. Und trotzdem sind viele von uns unzufrieden. Hoffentlich über die 8 Tonnen CO2, die jeder Deutsche 2019 ausstieß, statt der dringend erforderlichen nur 2 Tonnen, um die Klimakrise in den Griff zu bekommen.
2019 gab es weltweit 1,5 Millionen Tuberkulose-Tote. Über 220 Millionen Malaria-Infizierte und mehr als 400.000 Malaria-Tote. Gut drei Millionen verhungerte Kleinkinder. 2,5 Millionen verstorbene Neugeborene und drei Millionen weitere Kinder, die nicht einmal fünf Jahre alt wurden. 300.000 während ihrer Schwangerschaft oder unmittelbar bei der Geburt verstorbene Frauen. Fast jedes zehnte Kind blieb ohne Impfung. 16 Millionen HIV-Infizierte ohne Zugang zu den lebensrettenden Medikamenten. Knapp eine Milliarde Menschen ohne adäquate Gesundheitsversorgung.
Das war in puncto Gesundheit und Gesundheitsversorgung vor Corona normal. So richtig erschüttert und auf die Palme gebracht haben uns diese Zahlen und die dahinter verborgenen Schicksale und Dramen eigentlich nicht. Wahrscheinlich kannten wir diese Zahlen gar nicht. Und falls wir sie doch kannten, haben sie uns nicht bekümmert. Wollen wir allen Ernstes zu dieser Normalität zurück, die sich Schulter zuckend damit abfindet, dass es hier auf der Welt halt viele Verlierer gibt und ein paar Gewinner, die das Recht haben, möglichst ungestört weiter zu leben auf ihren paar Inseln der Glückseligkeit? Ich frage mich oft, was Jesus uns Inselbewohnern Ende 2019 zugerufen hätte und was er nun während der Pandemie sagen würde?
„Heilt die Kranken, die dort sind“!
Manche Experten der EZ würden ihm wahrscheinlich antworten: „Es hat sich doch etwas getan. Es gab in den letzten Jahrzehnten Anstrengungen, um die Gesundheitssituation zu verbessern: Die Lebenserwartung stieg weltweit seit 1980 immerhin von 63 Jahren auf 72 Jahre und die Mütter- und Säuglingssterblichkeit sank seit 1990 um rund die Hälfte.“ Aber die soeben gehörten Zahlen verbieten es, von einem Erfolg zu sprechen. Es wurde und wird nicht genügend getan! Echte Weltverantwortung sähe anders aus.
Die Gesundheitsversorgung für alle und der Aufbau von stabilen und jedem zugänglichen Gesundheitssystemen haben in der staatlichen und leider auch in der kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit immer noch nicht die Bedeutung, die sie haben müssten, wenn wir Jesu Auftrag ernst nehmen würden. „Heilt die Kranken, die dort sind – statt Eure halbherzigen Bemühungen als Erfolg zu verkaufen!“ Jesu Auftrag bleibt. Schauen wir also nochmal auf uns selbst:
Unser Engagement für die Armen und unsere Solidarität mit ihnen hielten sich bereits vor Corona in (bescheidenen) Grenzen. Von 82,3 Millionen Deutschen spendeten 2019 gerade einmal 19,5 Millionen überhaupt etwas. Pro Spender 261 Euro, immerhin. Aber pro Kopf der Bevölkerung gerade einmal 61,45 Euro. „Vergesst die Armen nicht!“
Tut mir leid: Aber unsere Besitzstandswahrung und die Aufrechterhaltung unseres verschwenderischen Lebensstils auf Kosten derer, die wir nicht sehen und derer, die nach uns kommen, waren uns wichtiger als das Teilen mit jenen, die weniger Glück haben als wir selbst.
Verantwortung zu übernehmen bedeutete für uns meist, sich um uns selbst, um unsere Familien und – schon viel seltener - auch einmal um unser Land oder Menschen in der Ferne zu kümmern. Solidarität war, auch für uns Christen, selten selbstverständlich, sondern fast immer außergewöhnlich. Eine Option für die Armen hatten wir nie.
„Wir haben“, sagt der Papst, „uns von Kriegen und weltweiter Ungerechtigkeit nicht aufrütteln lassen, wir haben nicht auf den Schrei der Armen und unseres schwer kranken Planeten gehört. Wir haben unerschrocken weitergemacht in der Meinung, dass wir in einer kranken Welt immer gesund bleiben würden.“ Recht hat dieser sympathische alte Mann aus Argentinien. Und jetzt fliegt der Menschheit, eigentlich wenig überraschend, Covid-19 um die Ohren.
Die Angst vor Corona und die Sorgen wegen seiner Folgen sind global geworden. Kurznachrichten von unseren Partnern sprechen Bände davon:
„Corona ist in der Nachbarstadt angekommen. Uns fehlt es an Medikamenten, Krankenhausbetten, geschultem Personal und Beatmungsplätzen.“ „Bei uns ist doch schon immer Corona!“ „Wir brauchen Masken, Schutzkleidung, Desinfektionsmittel. Eigentlich alles.“ „Wegen des Lockdowns können die Armen nicht arbeiten. Sie brauchen dringend Lebensmittel“. „Bis eure Hilfe kommt, ist es doch Juli.“ „Heute wurden bei uns die ersten Fälle bestätigt. Unsere Sorgen haben soeben begonnen.“ „Keinem geht es gut in dieser Zeit. Aber den Armen geht es furchtbar, weil ihr Ernährungszustand immer schlechter wird, das nächste Krankenhaus für sie unerreichbar ist und es kaum Mittel hat, um wirklich zu helfen.“ „Bei uns in Paraguay gibt es keinen einzigen Kühlschrank, der auf – 80 Grad kühlen könnte. Wie soll da jemals geimpft werden können?“ „Impfung bei uns? Auf die müssen wir ewig warten“.
Corona verschärft die (Gesundheits-)Probleme in den sog. Entwicklungsländern dramatisch. Die Armen gehören – wieder einmal - zu den Letzten, denen Hilfe zuteilwird. Die in den vergangenen Jahrzehnten im Schneckentempo etwas verbesserten Gesundheitssysteme können die Armen nicht ausreichend behandeln und schützen. Hinzu kommt ganz aktuell, das Hauen und Stechen um die Covid-19 Impfungen: Im Prinzip haben die reichen Länder das Impf-Büffet inzwischen schon abgeräumt und auch noch den zweiten und dritten Impf-Gang unter sich aufgeteilt!
Die sog. Covax-Initiative möchte zumindest 20% der Bevölkerung in den ärmsten Ländern bis zum Jahresende Impfungen zur Verfügung stellen. Gerade einmal 20% - wie krank ist das denn? Und die Finanzierung dafür ist völlig ungesichert, nach Aussage unseres Ministers Gerhard Müller fehlen dafür 25 Milliarden Euro! 25 Milliarden, die die reichen Länder anscheinend nicht aufbringen wollen für ein an sich sehr ambitionsloses Ziel. „How dare you?“ „ Was untersteht Ihr Euch?“ Fazit: Die Armen müssen weiter warten und weiter an Corona sterben. Sie haben Pech, weil sie auf der falschen Seite des Erdballs geboren wurden. Heilt die Kranken, die dort sind!
Aber noch mehr Arme werden wohl wegen Corona ihr Leben lassen: Denn viele öffentliche Gesundheitssysteme sind während Corona zusammengebrochen und dringend nötige Präventions- sowie Impfprogramme sind in vielen Regionen fast zum Erliegen gekommen. Wegen der Ausgangssperren ist es fast unmöglich, einen Arzt aufzusuchen. Wer es trotzdem einmal in ein Krankenhaus schafft, muss meist feststellen, dass ihm dort trotz besten Willens, wegen chronischen Mangels an medizinischem Personal, Medikamenten, Diagnosemöglichkeiten und Ausstattung bei Corona und anderen schweren Erkrankungen gar nicht (mehr) geholfen werden kann.
Hinzu kommt die sich gravierend verschlechternde Ernährungssituation. Der „Corona-Hunger“ steigt, weil es Engpässe bei der Nahrungsmittelversorgung gibt, die Lebensmittel teurer werden und die Armen wegen der Lockdowns und Quarantänen kaum die Möglichkeit haben, für ihr Auskommen durch Arbeit auf dem informellen Sektor selbst zu sorgen. Als Folge davon und wegen defizitärer Sozialprogramme gehen Mangel- und Unterernährung durch die Decke.
Das Panorama ist düster. Bereits vor Corona lagen Unmengen von Schwestern und Brüdern hilflos-blutend, ausgeplündert und halbtot am Wegrand zwischen Jerusalem und Jericho. Wir nahmen ihre Situation achselzuckend zur Kenntnis, um dann gleich weiter zu eilen wie der Priester und der Levit in Jesu Beispiel vom barmherzigen Samariter. Immer hatten und haben wir so viel um die Ohren, so viel eigene Probleme, so viel vermeintlich Wichtigeres zu tun, so viele Ausreden und Beschönigungen, statt uns zuständig zu fühlen. Diese „Sollen-die Anderen-doch-Machen-Mentalität“ war schon vor Corona weit verbreitet, opportun und bequem. Christlich war das noch nie und während einer Pandemie ist es das noch weniger!
Wie gesagt: Wir leben in einer irren Zeit, die die meisten von uns überfordert. Es geht uns heute so ähnlich, wie dem Priester, dem Leviten und auch wie dem Samariter zu Zeiten Jesu: Ausgerechnet jetzt, wo wir es eilig haben, wo wir Sorgen, Verpflichtungen und Ängste wie noch nie oder schon lange nicht mehr haben, türmen sich jeden Tag mehr hilflose und kranke Menschen am Straßenrand zwischen Jericho und Jerusalem: In den Slums von Mumbai; in der Subsahara, in den Elendsvierteln von Lima, Bogotá und Nairobi; in den Regenwäldern des Amazonas; in den Hochanden; im Chaco, im Kongo und in Südafrika. Überall liegen sie und hoffen auf Menschen, die sich zuständig fühlen für ihre Situation, für ihr Leid und für ihren Wunsch, überleben zu können. Sie hoffen darauf, nein, sie sind darauf angewiesen, dass wir, wirklich jeder einzelne von uns, uns zuständig fühlen für sie, wie damals der Samariter. Heilt die Kranken, die dort sind!
Corona ist ein schlimmer, lauter und vielleicht sogar letzter Warnschuss: Wir können so wie bisher echt nicht mehr weitermachen! Wir müssen unsere Vorstellungen von Glück, von Freiheit und von Verantwortung neu definieren. Denn verantwortlich ist man nie nur für sich selbst, sondern immer auch für die anderen. Freiheit bedeutet eben nicht, all das zu tun und mitzunehmen, was nur irgend möglich ist, sondern vor allem das zu unterlassen, was anderen schaden könnte. Und Glück ist keine Privatangelegenheit, sondern eine Gemeinschaftsaufgabe, in deren Dienst wir das, was wir haben und können, endlich stellen müssen.
Die Pandemie, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, ist kein (Horror)Film, den wir mit gruseliger Faszination wie eine Fernseh- oder Netflix-Serie vom Sofa aus mitverfolgen. Wir schauen nicht auf eine Leinwand, sondern auf die bittere Realität, in die wir hineingeworfen und - wegen unseres Mobilitäts- und Freizeitverhaltens - zum Teil auch selbst verschuldet hineingeschlittert sind. Es wird Zeit, die Chips-Tüte aus den Händen zu legen, in den Spiegel zu schauen und sich einzugestehen: Diese Krise ist unsere Krise! Wir können sie nur gemeinsam durchstehen und bewältigen. Die Menschheit sitzt tatsächlich in nur einem Boot und das Virus verbreitet sich unabhängig davon, ob der Sitzplatz vorne oder hinten, oben oder unten ist. Keiner rettet sich allein.
Deshalb ist es höchste Zeit, uns gemeinsam und entschlossen auf die Socken zu machen. Wie die Jünger und Jüngerinnen, die Jesus aussendete, um die Kranken, die dort sind zu heilen und den Leuten zu sagen und spüren zu lassen, dass das Reich Gottes nahe ist. Die Jünger/innen fühlten sich zunächst wohl ähnlich überfordert wie wir heute und konnten sich kaum vorstellen, wie das gehen soll: Heilen und das R.G. verkünden. Aber im Vertrauen auf den Herrn machten sie sich auf den Weg. Nein, sie gingen ihren Weg, weil ihnen ihr Auftrag so klar und selbstverständlich erschien, wie dem Samariter der seine.
Unser Auftrag in Zeiten der Pandemie und für die Zeiten danach ist ebenso unmissverständlich: Wir müssen gemeinsam nach vorne schauen, statt nostalgisch auf eine Vergangenheit zu blicken, die vielleicht für uns ganz angenehm war, aber die Mehrzahl der Menschen krank ließ und krank machte und unsere Mutter Erde erst recht. Wir müssen den Kurs unseres Bootes herumreißen, die Sitzanordnung ändern, Oben mit Unten vertauschen, uns hinten anstellen und sowohl den Ärmeren als auch den nachfolgenden Generationen den Vortritt lassen. So gelänge es, viel mehr Kranke zu heilen und eine heilsame Zukunft mitzugestalten. Das wäre Solidarität, das wäre ein Hauch vom Reich Gottes!
Umsteuern, statt weiter zu wursteln. Umdenken, statt quer zu denken. Umkehren, statt an die Wand zu fahren. Umfairteilen statt auf Privilegien zu pochen. Von sich absehen können, statt um sich selbst zu kreisen. Sich zuständig fühlen, statt sich weg zu ducken. Teilen, statt Schnäppchen zu machen. Selbst den Tisch decken, statt das Büfett abzuräumen. Geben, statt nehmen. Spenden, statt sparen. Schützen statt Party machen. Verzichten, statt prassen. Nicht alles auf einmal sofort haben wollen, sondern warten können. Nicht mehr nehmen und wollen, als das, was man braucht. Private und kirchliche Solidar- und Corona-Fonds gründen, statt Gelder zu kürzen und nach dem Staat zu schreien.
Meine Kanzelrede geht zu Ende und dennoch fröstelt es uns hier in St. Johannis womöglich immer noch. Eigentlich schade: Denn der Heilungsauftrag Jesu und sein gleich darauf anschließendes Gleichnis vom barmherzigen Samariter zeigen uns, was durch Solidarität, Barmherzigkeit und das Ernstnehmen eines Auftrags alles bewegt werden kann. Wenn wir uns wirklich entschließen, die Corona-Krise gemeinsam zu besiegen und die Klima-Krise gemeinsam abzuwenden, wird uns auf dem Weg dorthin von alleine warm.